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Ob nun Rolf Lyssy Polanski verteidigt oder Adolf Muschg Gerold Becker, Leiter der Odenwaldschule, in beiden Fällen wird um das Vermächtnis von 68 gezittert.
Muschg zum Fall Becker: Becker werde für eine Botschaft hingerichtet, die jahrzehntelang als befreiend gefeiert worden sei. «Das ist, angesichts der Realitäten, eine monumentale Heuchelei.» Jugendschutz sei heute so etwas wie «das Kerngeschäft der Korrektheit geworden» in einer Gesellschaft, «die darüber erschrocken ist, dass sie Sex ohne Grenzen zur Vermarktung freigegeben hat».
Es verwundert immer wieder wie Politiker, Intellektuelle und andere Rampensäue entweder das Volk oder aber die Gesellschaft missbrauchen für ihre Auftritte. Dieser zum einen selbstreferenzielle Ausschluss der eigenen Person aus der Gesellschaft zwecks Beobachterposition, oder zum anderen der unproportionale Zu- oder eben nicht-Zugehörigkeitsschwachsinn macht zunehmend Schule.
Der Satz, “Jugendschutz ist heute so etwas wie das Kerngeschäft der Korrektheit geworden“, klingt irgendwie schlau, kommt auf den ersten Blick für unbedarfte Kleinintellektuelle recht plausibel über den Tresen, erwartet man doch von Zeit zu Zeit Wortmeldungen aus dieser Ecke, wie zu Tagen von Frisch und Dürrenmatt. Nun die Zeiten haben sich geändert. Längst sind die Torhüter der wahrhaftigen Lebensart, frei nach dem Bonmot von Karl Barth, der seine Geliebte Charlotte von Kirschbaum im eigenen Hause über dem Kopfe seiner Frau und Kinder einquartierte und sich dazu wiefolgt geäussert haben soll: “Der Wegweiser geht ja auch nicht dahin, wohin er zeigt.“, selber verdächtig geworden.
Doch man fragt heute nicht mehr gross nach, welcher Sugardaddy da gerade seine etwas peinliche Libido ausbreitet und sei es in einer Talkshow oder Gazette.
In Zeiten wo das Älterwerden angesichts einer omnipotenten Bild-Überwachung der Zerfall zur täglichen Qual wird, was am eigenen Leibe gerade noch zu verkraften wäre, da der Rasierspiegel oder die Schminkkomode die eigene tägliche Visage subjektiv ins Morgen lügt, sind es die Filmsternchen und Popsternchen, die vor unseren Augen verwelken und die den Kampf um glatte Oberflächen, trotz, oder gerade wegen dem enormen Aufwand verlieren, das macht uns Angst. Wir die wir in eine Zeit geboren, wo das ewige Leben hienieden zum Programm erklärt, keinen Widerspruch duldet, frei nach dem Motto, wer sich alt fühlt ist auch alt und gehört entsorgt, oder besser aus dem Weg gestellt, damit wir freie Sicht auf die Jugend haben. Dies, lieber Muschg, ist in der Tat Programm in unserer, auch Ihrer Gesellschaft. Jugendschutz ein Kerngeschäft? Sie haben wohl jenen Bericht einer betroffenen Mutter nicht gelesen, welche beim Jugendamt um Hilfe wegen ihrer auf Abwege gekommenen Tochter nachgesucht hatte und man ihr dort in aller (männlichen) Selbstverständlichkeit gesagt hat: “Nutten muss es schliesslich auch geben.“
Jugendschutz oder gar Kinderschutz ist nicht ein Kerngeschäft, aber es ist ein Anliegen von Eltern, die sich täglich abrackern, um unserer Gesellschaft einigermassen anständige Mitglieder zu liefern. Sie und ihre Kinder haben ein Anrecht auf diesen Schutz. Und unter uns, es ist nun mal ein Unterschied, ob ich ein Kind oder einen Jugendlichen mal an mich drücke, aus Freude, oder um ihnen zu zeigen, dass sie willkommen sind auf dieser oft etwas kalten Welt, aber müssen sie mir zum Dank dafür einen blasen? Wir sprechen hier nicht von Streicheleinheiten und wenn wir von Lebensmitteln sprechen, dann geht es hier ums Eingemachte. Es geht auch nicht darum, Herrn Becker a tout prix in die Pfanne zu hauen, quasi als Lebensmittel der Boulevardpresse, welche solchen Junkfood natürlich mit Wonne den Wölfen zum Frasse vorwirft. Die Schule ist unter seiner Leitung ins Abseits geraten und der Artikel von Amelie Fried ist beklemmend genug und zeigt die beiden Seiten dieser traurigen Geschichte. Wie im Fussball wird das Spielfeld befleckt von Hooligans und die Torhüter auf dem Felde der sexuellen Befreiung haben nach wie vor Angst vor dem Elfmeter. Aber ein Foul bleibt nun mal ein Foul lieber Muschg und Schieds- als auch Linienrichter gehören nun mal zum Game wie das Amen in der Kirche, auch wenn sie mal falsch blasen auf ihrer Pfeife.
Beinah möchte ich sagen, was sich liebt, das neckt sich. Es genügt ein wenig Fairplay und einen Verweis auf den Muschg den wir alle zu kennen glauben.
Klappentext zu:
Adolf Muschg, Wenn es ein Glück ist : Liebesgeschichten aus vier Jahrzehnten, Ed. Suhrkamp, 2008
Liebesgeschichten sind ein Genre, dem Adolf Muschg sich über vierzig Jahre stets aufs neue gestellt hat. Dem Raum und der Zeit nach kennen sie keine Grenzen. Sie spielen im neuseeländischen Hügelland ebenso wie auf einer Latifundie in Argentinien. Sie ereignen sich vor dem Hintergrund eines Schweizer Bergdorfs und in den anonymeren Gefilden einer zeitgenössischen Großstadt. Es sind Geschichten mit dem denkbar breitesten Spektrum. Es geht um die Liebe zwischen Mann und Frau, um Freundes-, Kindesliebe und Inzest, und immer wieder: um die Liebe in ihrer vertracktesten oder gar deformierten Gestalt, um Schuld, Ohnmacht, Scheitern, Revolte, Gewalt. Gefasst im expressiven Ton des leidenschaftlich Beteiligten oder niedergeschrieben mit der Sachlichkeit eines Protokollanten.
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