Künstler als Aufklärer oder der Sack aus dem keine Gasse führt.
A.F. Grazi
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Die Frage ist nicht 'Können sie denken?'
oder 'Können sie reden?',
sondern ‚Können sie leiden?'.
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Jeremy Bentham (1748-1832, engl. Philosoph und Jurist) war, gemeinsam mit John Stuart Mill, einer der sehr wenigen Männer seiner Zeit, die sich öffentlich für Frauenrechte einsetzten und die frühe Frauenbewegung unterstützten, indem er beispielsweise der erste war, der das Wahlrecht für Frauen forderte. Des Weiteren war er einer der ersten Befürworter von Tierrechten. Auf der anderen Seite erinnert uns Benthams Vorstellung, dass es unter besonderen Umständen moralisch sein könne jemanden zu foltern, an Jack Bauer aus der Serie “twenty four“ und seine Kumpanen in der realen Welt. Die Besonderen Umstände umschreibt Bentham wiefolgt: “Die durch Folterung mögliche Bewahrung vor Schaden hebe die gesamtgesellschaftliche „Menge an Glück“, was mehr wiege als das Leid des Betroffenen.
Folgende Geschichte kursiert seit einiger Zeit im Internet. Bereits am 22.Oktober 2007 schreibt der Spiegel:
Der costaricanische Kreative Guillermo Vargas ließ im Rahmen einer Kunstaktion einen angeketteten Straßenhund verhungern. Blogger machten den Fall bekannt, jetzt laufen Tierschützer Sturm. San José - Guillermo "Habacuc" Vargas" wollte ein Zeichen setzten: Er ließ ein paar Kinder im Armenviertel des nicaraguanischen Managua einen abgemagerten Straßenhund einfangen und kettete ihn in der städtischen Galerie an. Dann nahm er mehrere Hand voll Trockenfutter und schrieb damit einen Satz an die Wand: "Du bist, was du liest". Einen Tag später war die Schrift noch da - das Tier war tot. Verhungert.
Man liest weiter, was der Künstler dazu sagt:
"Wenn ich den Hund als Kunstobjekt vor eine Wand binde, wird er plötzlich zum Fokus. Wenn er in der Straße vor Hunger stirbt, kümmert das keinen."
Auch in der Ausstellung habe niemand den Hund befreit oder ihm etwas zu essen gegeben. "Keiner hat irgendetwas unternommen", sagte der Künstler. Mit der Aktion habe er an den Tod von Natividad Canda erinnern wollen, so Vargas. Der Mann aus Nicaragua war von zwei Rottweilern angegriffen und getötet worden. "Die Menschen haben ihm erst Beachtung geschenkt, als er von Hunden gefressen wurde", so Vargas. Canda war als Arbeitsemigrant ins Nachbarland Costa Rica gekommen und starb, ohne dass die Besitzer der Hunde oder die Polizei eingriffen. "Der Hund aus meiner Austellung ist heute lebendiger als je zuvor, weil immer noch über ihn gesprochen wird."
Es mag bezeichnend sein für einen Künstler, dass er den Begriff der Lebendigkeit gerne über das Leben hinauswachsen lässt. Ein lebendiger Künstler über den man schweigt ist ein toter Künstler. In Sachen Hund liegt hier ein kleiner Denkfehler vor. Niemand kennt diesen Hund. Es handelt sich nicht um Barry den Bernhardiner, es handelt sich um den von Vargas ermordeten namenlosen Hund. In aller Munde ist Vargas der Künstler und nicht der Hund. Diese bedauernswerte Kreatur war nur Vehikel für eine überaus narzisstische Variante Mensch.

Man kann es sich leicht machen und mit ins Horn der Tierschützer blasen, welche sich von abgehobenen Argumenten nicht beirren lassen. Man kann aber auch mit dem Tierschützer der ersten Stunde und Befürworter der Folter unter besonderen Umständen, Jeremy Bentham, folgern, dass die Folter an diesem Hund die gesamtgesellschaftliche “Menge an Hunde-Glück“ anheben könnte. Wenn Serienheld Jack Bauer foltert, dann wird uns plausibel gemacht, dass einige tausend Amerikaner dadurch gerettet werden und in Filmen kann man das Drehbuch ja so auslegen, dass die „Benthamsche Menge an Glück“ auch eintrifft. Trifft das aber auch für die Strassenhunde dieser unserer Welt zu? Ist der nicaraguanische Hund eine Art Jesus der Strassenhunde? Gestorben im Tempel der Kunst für alle anderen Kreaturen der Strasse, auch der Strassenkinder notabene? Was aber ist dann der Künstler Vargas? Ist er ein selbsternannter Vollstrecker, oder gar ein Pilatus, der seine Hände in Unschuld wäscht? Einer der nur ausführt, was wir ihm in den Schoss seiner Allmacht gelegt haben, in den Schoss der Kunst in diesem Falle? Das Volk habe zugeschaut in der Galerie, habe den Hund nicht befreit. Nun kann man weiter hinterfragen, was für Leute denn eine Kunstgalerie besuchen. Soviel steht fest, diese Leute sind ebenso wenig das Volk, wie etwa die Wähler einer populistischen Volkspartei das Volk sind. Und weiter steht fest, dass sie nicht viel von Kunst verstehen, denn das “Kunstwerk“ hätte in diesem Falle eine Befreiung des Hundes im Namen der Kunst sicher verkraftet. Wie leicht jedoch auch ein ganzes Volk einem Künstler oder einer Idee auf den Leim gehen kann, hat das 20. Jahrhundert zur genüge bewiesen. Zu diskutieren ob etwas Kunst ist oder nicht ist müssig, längst unterscheiden wir nur noch zwischen guter und schlechter Kunst und Hitlers Gesamtkunstwerk war wohl eines der grauenvollsten Gesamtkunstwerke aller Zeiten. Auch hier haben die Leute geschwiegen und dies nicht nur um die eigene Haut zu retten, man erinnere nur an die unglaubliche Anzahl deutscher Ärzte, die sich in den Bann der NSDAP mit ihrem aberwitzigen Programm der Rassenhygiene begaben und den Glauben an den arischen Volkskörper dergestalt verinnerlichten, dass er zu ihrem ureigenen Credo wurde. An der sozialen Skulptur des Volkskörpers bauten primär gebildete Leute, Juristen, Architekten, Ingenieure, Künstler, Philosophen, Kunsthistoriker und Literaten. Sie alle folgten dem Führer in eklektischer Hingabe durch dick und dünn einer neugeborenen deutschen Kultur wie eine Horde Primaner.
Rettet also Vargas andere Hunde oder gar Menschen vor dem Hungertod? Ist der Appell bei uns allen angekommen oder wollen wir vorerst Vargas Kopf? Und danach? Retten wir dann Strassenkinder und Hungerhunde oder sind wir froh, nicht weiter darüber nachzudenken?
Aber wie steht es denn nun um die Freiheit der Kunst? Es gibt nur gute und schlechte Kunst davon gehen wir aus. Die Frage stellt sich wie bereits erwähnt nicht, ob die Aktion dieses Vargas Kunst ist oder nicht. Wahrscheinlich ist sie aber schlechte Kunst, da es sogar bis zu Vargas durchgedrungen sein sollte, dass Jesus als Märtyrer mehr Elend in die Welt gebracht hat, als Liebe oder „Anhebung des Glücks“.
Kreuzzüge sind nichts weiter als politischer Eigennutz, und wer im Namen Gottes tötet, der mordet ganz einfach, nicht mehr und nicht weniger. Wer also denkt, dass man heute im Namen der Kunst morden kann, der ist wohl ebenso auf dem Holzweg.
In An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789) schreibt Bentham:
„Es mag der Tag kommen, an dem man begreift, dass die Anzahl der Beine, die Hautfarbe oder das Ende des Kreuzbeins genauso ungenügende Argumente sind, um ein empfindungsfähigen Wesens dem (gleichen) Schicksal zu überlassen. Warum soll sonst die unüberwindbare Grenze gerade hier liegen? Ist es die Fähigkeit zu denken oder vielleicht die Fähigkeit zu reden? Aber ein ausgewachsenes Pferd oder ein Hund sind unvergleichlich vernünftigere sowie mitteilsamere Tier als ein Tag, eine Woche, oder gar ein Monat alter Säugling. Aber angenommen dies wäre nicht so, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht 'Können sie denken?' oder 'Können sie reden?', sondern ‚Können sie leiden?'. Warum soll das Gesetz es ablehnen empfindungsfähige Wesen zu schützen? Die Zeit wird kommen, in der die Menschheit ihren schützenden Mantel über alles, was atmet, erweitert…“
Aber eben, in Nicaragua können Hunde offensichtlich ungeschoren „minderwertige“ ausgewachsene Menschen fressen.
Von Gauklern Badern und Pfaffen
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Zum Inbegriff der Schaubude ist die “Schichtl-Bude“ auf dem Münchner Oktoberfest geworden, die seit über 100 Jahren den Trick „Enthauptung einer lebenden Person mittels Guillotine“ zeigt.
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Im Mittelalter gehörten Jahrmärkte zu den wichtigsten Ereignissen in den sich politisch verselbständigenden Städten. Der Soziologe Max Weber hat auf solche Märkte den Sondertyp der "okzidentalen Stadt" zurück geführt. Die "Stadt" ein politisch (oft stadtstaatlich) geschützter Marktort war wirtschaftlich sehr bedeutsam. Auch sozial war der Jahrmarkt bedeutsam. Gerichtstermine und Hinrichtungen wurden auf ihn gelegt. Auf ihm wurden Nachrichten und Gerüchte aus entfernten Gebieten ausgetauscht, er erweiterte so die Weltkenntnis seiner Besucher, denen dazumal keine Massenmedien zur Verfügung standen. Oft wurden auch religiöse Sonderveranstaltungen abgehalten. Die Kirche verfügte aber seit eh über eigene Bereiche, die Gotteshäuser und Klöster, so dass der Jahrmarkt sich mehr und mehr auf die weltlichen Dinge, den Handel und die Schaustellerei, ausrichtete. Die bildenden Künste, zu dieser Zeit weitgehend im Dienste der Kirche als auch der Fürstenhäuser, erreichte die gemeinen Leute gerade mal in den Gotteshäusern. Noch war die bürgerliche Kunst, oder besser der bürgerliche Kunstmarkt nicht geboren, dieser wartete auf das Bildungsbürgertum. Unter dem Begriff Bildungsbürgertum versteht man eine seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa neu entstandene einflussreiche Gesellschaftsschicht, die sich durch humanistische Bildung, Literatur, Wissenschaft und Engagement im Staate auszeichnete. Ursache für die Herausbildung dieser Schicht war der spätabsolutistische Verwaltungsstaat, der für seine Reformtätigkeit eine große Zahl gut ausgebildeter Beamten benötigte, die das alte System nicht hervorzubringen vermochte.
Erste Museen gingen oftmals aus Wunder- bzw. Kunstkammern des Adels oder kirchlicher Würdenträger oder speziellen privaten Kunstsammlungen hervor. Immerhin, in Basel erwarb die Stadt bereits 1661 eine private, vom Verkauf ins Ausland bedrohte private Sammlung, das Amerbach-Kabinett, und machte diese 1671 öffentlich zugänglich. Seit der Aufklärung versteht man unter Kunst vor allem die Ausdrucksformen der Schönen Künste. Der Begriff Kunst hat im Laufe der Jahrhunderte und in verschiedenen Kulturen seine Bedeutung stets verändert und tut es noch. Kein Jahrhundert hat bis anhin so viele Stile, Kunstrichtungen so genannte Ismen und Kunsttheorien hervorgebracht wie das 20. Jahrhundert. Mit der Postmoderne ist gar der Anspruch auf das Neue, das noch nicht da gewesene gefallen. Noch nie hat es einen so breit gefächerten Kulturbetrieb gegeben wie heute, der nach den Kriterien der Aufmerksamkeitsökonomie dermassen am leeren Baume der Erkenntnis rüttelt, dass er schon im Frühsommer ohne Blätter in der Gegend herumsteht. Längst haben Schlange und Früchte das Weite gesucht und da wo einst der Garten Eden war, stehen heute Wolkenkratzer.
Luca di Blasi schreibt in seinem Text “Alles so schön sinnlos hier“:
„Offenbar ist es vielen Künstlern gelungen, eine Strategie der Unverwundbarkeit zu entwickeln. Ihre Kunst betreibt eine Selbstimmunisierung durch vollendete Bestätigung: Ich bin alles das, dessen du mich verdächtigst.“ Erfolgreiche Sammler wie Christian Boros haben deswegen ihren eigenen Verdruss zum Sammelkriterium erhoben. Man kann diese Strategie nur empfehlen.
Die okzidentale als auch die orientalische Stadt werden zusehends zu Orten des globalen hier und jetzt. Märkte breiten sich aus bis weit hinein nach China um nur einen der expandierenden Staaten zu nennen. Wie global die Gegenwartskunst heute agiert zeigt folgendes Beispiel der jüngsten Vergangenheit: Das Kunstmuseum Bern (Schweiz) zeigte das Werk des chinesischen Künstlers Xiao Yu „Ruan“.Das umstrittene Werk besteht aus dem Körper einer Möwe und einem mit Hasenaugen bestückten Kopf eines menschlichen Fötus. Die Figur schwimmt wie die Tiere von Damian Hirst - in einem Behälter, der mit Flüssigkeit gefüllt ist. Bereits 1999 war das Werk auf der Biennale von Venedig ausgestellt, ohne dass es Anstoß erregt hatte.
Thomas Wagner schrieb dazu in der FAZ.NET :
11. August 2005- Die Biologie vermag solche hybride Kreaturen nicht zu klassifizieren. Ihr Terrain ist die Kunst. Seit einiger Zeit treiben sie dort ihr heikles Spiel mit dem Kuriosen und Monströsen, um an den Grenzen des guten Geschmacks die Grenzen des Machbaren auszuloten. Der Schutzraum der Kunst mit seiner symbolischen Ordnung gebiert umso häufiger Monster, seit die Gentechnik Ängste und Phantasien geweckt hat und Fotografien leicht am Rechner kreiert werden können, womit sich allerlei Gezücht nach Belieben als Bild erzeugen läßt. Was aber, wenn es sich herausstellt, daß das Gezeigte gar keine Nachahmung ist?
Schönheit, nach Kant Zweckmässigkeit ohne Zweck, war ursprünglich eingewoben in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft und somit kein eigenständiges Phänomen. Entweder war sie eingebunden in das Sakrale oder aber in das Profane und somit Gegenstand handwerklicher Produktion. Mit Octavio Paz gesprochen, entweder “der Nützlichkeit“ oder der “magischen Wirksamkeit“ untergeordnet. Die autonome Kunst entwickelt sich zeitgleich mit der industriellen Produktionsweise. “Die Entzauberung der Welt“ (Max Weber) ermöglichte den Aufstieg der bürgerlichen Klasse und die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise. Die Loslösung der Kunst aus den kultisch religiösen Zusammenhängen liess sie autonom werden ohne die entmachteten religiösen Gehalte fallen zu lassen. Diese blieben beharrlich als benjaminsche Aura im Kunstwerk zurück. Oder mit Octavio Paz gesprochen: “Die Religion der Kunst entsteht aus den Trümmern des Christentums.“
Nirgends hat die Aufklärung mehr versagt als in den Bereichen der autonomen Kunst.
In ihr wurden die Mythen hinübergerettet in unsere Alltage. Das Kunstwerk hält her als Krypta nicht eingehaltener Versprechungen und erschöpft sich als Geschrei in geschützter Werkstatt. Urban gesprochen ist das was einmal der Jahrmarkt war, zurückgekehrt in die Kultur der Spätmoderne. Gaukler und Bader beherrschen erneut die Bühne. Sterblichkeit als variable Grösse ist der Preis für die Erfolge der Naturwissenschaften, in diesem Falle der Medizin. Es gab eine Zeit, da war sie einfach da, war sie allgegenwärtig. Dadurch, dass sie da war, nahm man sie im Grunde vermindert wahr. Man lebte, man arbeitete um nicht Hunger zu haben, man schlief, man starb. Man war froh, nicht schon als Säugling gestorben zu sein und nahm es auch hin, wenn man zum Methusalem wurde. Es war dies der Wille Gottes und die Erde war ein Jammertal.
Die Moderne brachte uns eine Medizin, die den Tod oft ins Wartezimmer verweist, da der zum Sterben Vorgesehene noch etwas weiterzuleben trachtet.
Im globalen Jahrmarkt ist etwas heimgekehrt, aus dem Adam und Eva vertrieben wurden. Die Wellnessoase Kapitalismus. Aus dem Wohlstand heraus zu sterben ist schlimmer, als wenn einer im Jammertal verreckt. In diesem Wissen zu leben, aber auch in der steten Angst, zu kurz zu kommen, durch das soziale Raster zu fallen, macht krank. Burnout oder "emotional instabile Persönlichkeitsstörungen" sind die Folge. Die Kunst hat immer schon mit dem Tod laboriert. Am augenscheinlichsten wird im Actionfilm gestorben. Solch quantitatives Ableben wirkt unrealistisch und schafft eine Distanz zum Tod, wir überleben mit den Helden. Stirbt der Held, so stirbt er und wir überleben den Film. Baut der Film eine emotionale Beziehung zwischen dem Darsteller und dem Zuseher auf, so findet eine Übertragung statt, der Zuseher leidet mit. Handelt es sich um einen Dokumentarfilm welcher einen Todkranken begleitet, so sind wir noch stärker emotional gefordert. Das Medium schafft jedoch immer die nötige Distanz, der Tod, das Sterben findet hinter Glas statt.
Der deutsche Künstler Gregor Schneider erregt zur Zeit die Gemüter mit seinem Projekt einen Menschen im Museum sterben zu lassen. Er will so genannte “humane Orte für den Tod“ schaffen. Auch hier wieder ein “Autor“, der jemanden braucht, der seinen Tod der Kunst zur Verfügung stellt. Sicher, für bestimmte Leute eine Erfahrung wert, jemanden sterben zu sehen oder in den Tod zu begleiten, vorausgesetzt, das Ableben des “Protagonisten“ fällt auf den Besuch des Rezipienten. Denkbar wäre natürlich eine Vernissageveranstaltung mit vollem Haus und als Hilfsmittel der Koordination ein Heliumsack von Dignitas, das Ganze mit entsprechender Bandenwerbung, z.B. für Vitamin C, dies wäre zeitgemässes humanes Sterben in gewohnter Umgebung. Der anschliessende Apéro wäre dann gleichzeitig das Leichenmahl.
Leider ein etwas pubertärer Kunstansatz und schade für Schneider, der doch ansonsten mehr überzeugt hat. Hier wird die “Aura des Authentischen“ noch zusätzlich vom Hohepriester überschattet. Die letzte Ölung salbt die Kunst anstelle der abgesetzten Kirche. Nun vielleicht ist wirklich die Zeit gekommen, dass wir Galerien und Museen generell in Sterbehospitzen verwandeln und uns so auf den Untergang des Abendlandes vorbereiten, denn diesem nähern wir uns im selben Masse, wie die Ressourcen schwinden.
Bei Kunstaktionen die über den Skandalkanal ihre Aufmerksamkeit erlangen, trachtet nur einer nach Unsterblichkeit und das ist in der Regel der Künstler. Hier gilt vielleicht der Satz von Bertheim:
“Die Berechenbarkeit eines Kunstskandals ist heute - und erst recht in unserer freien anything-goes Welt - leider meist umgekehrt proportional der Qualität eines Werkes.“
Oft verlieren sich Künstler in ihrem sozialen Engagement und vergessen dabei, dass es letztlich um sie selber geht auch wenn sie sich ihr Engagement noch so selber glauben. Humanes Sterben hat sicher damit zu tun, dass man es wenn möglich nicht im Alleingang bestreiten muss, dass man seine nächsten bei sich hat, sofern man welche hat. Es ist aber doch auch ein höchst intimer Akt oder ist das ein Irrtum? Nun vielleicht gibt es Exhibitionisten, deren Anliegen es ist, auch noch ihren letzten Atemzug zu Markte tragen, oder bis zu letzt im Mittelpunkt zu sein. Es ist nicht der Tod, den wir aus dem gesellschaftlichen Leben verbannen, es sind dies die Alten und Lahmen, kurz die nicht Erfolgreichen. Das Ende der sozialen Verantwortung, die Totenfeier, ist für viele heute nur noch ein Vorwand für das schlechte Gewissen.
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Gleich Würmern wimmelnd ist ins Hirn gedrungen
Die Teufelsschar, die uns zerstören muss,
Wir atmen, und ein unsichtbarer Fluss,
Der Tod, strömt klagend hin durch unsre Lungen.
Baudlaire (fleurs du mal)
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Eine der meistdiskutierten und umstrittensten Künstlerinnen unserer Tage ist Teresa Margolles. In Europa wurde sie bekannt durch ihre goldglänzende Wand aus menschlichem Fett, Abfall von Schönheitsoperationen. Aber auch durch die Werkschau “muerte sin fin“ in der wundersame Seifenblasen aufsteigen aus Seifenwasser, welches zum Leichenwaschen in mexikanischen Leichenhäusern gebraucht wurde.
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Niklas Maak in der FAZnet schrieb dazu:
Teresa Margolles bewegt sich an einer heiklen Grenze zu Kitsch und Grusel, und das eigentlich Erstaunliche ist, wie es ihr gelingt, auf jenem Grat nicht sofort abzustürzen. Kritiker werfen ihr Zynismus, Effekthascherei und ein geschmackloses Spiel mit dem Tod als einem der letzten Tabus der Kunstproduktion vor; ihre Anhänger feiern ihre Kunst als radikale Auseinandersetzung mit dem Tod als dem schlechthin Verdrängten einer Kultur, die mit jungen Drogen- und Gewaltopfern, überhaupt mit dem allgegenwärtigen Tod nichts zu tun haben wolle.
Die beklemmende Atmosphäre dieser Spuren verschwundenen, anonym bleibenden Lebens wirkt wie ein Anschlag auf den Körper des Betrachters.
Kunst zum Einatmen
Direkt attackiert wird er vom Leichenwassernebel. Zeitgenössische Kunst muß, bei allem Hang zum Schock, selten eingeatmet werden; Margolles zerstört diese Distanz systematisch. Das Werk, in diesem Falle die - immerhin desinfizierten - Leichenwasserdämpfe, diffundieren in die Kleidung, befeuchten Lippen und Haut und erzeugen einen Ekel, der über Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn funktioniert. Man kann die künstlerische Strategie dahinter begreifen: Was Margolles mit ihren obsessiven Arbeiten versucht, ist, eine Kunst zu schaffen, die weder visuell konsumierbar noch optisch in den Griff zu bekommen ist, sondern sich im Körper des Betrachters festsetzt und im Wortsinn berührt.
Wiederum bemühen wir Jeremy Bentham. Er hat das 20/21. Jahrhundert vorweggenommen. Bentham verfügte in seinem Testament, dass sein Körper nach seinem Tode präpariert und als „Auto-Icon“ in einem Holzschaukasten im University College London ausgestellt werden sollte. Benthams „Auto-Icon“ ist heute im südlichen Trakt des Hauptgebäudes öffentlich ausgestellt. Ein Wachskopf ersetzt dabei Benthams Kopf, dessen Präparierung nach der Methode der Kopfjäger von Südamerika misslang und welcher zunächst zu seinen Füßen lag. Heute wird der Kopf im Archiv verwahrt und nicht mehr öffentlich ausgestellt.

Wo immer dem Tod eine zentrale Rolle zukommt treffen wir auf den Trittbrettfahrer “Leben danach“. Daoistische Mönche im 5. und 6. Jahrhunderts nach Chr. in China praktizierten Selbstmumifizierung. Sie wollten „Unsterblichkeit“ erlangen. Dabei wurden körperliche Vorgänge durch Meditationstechniken zu kontrollieren gelernt und die Ernährung umgestellt. Den Tod führten die Mönche dann herbei, indem sie durch das Trinken von Lackbaumsaft ihre Verdauungsorgane versiegelten. Die Körper wurden danach durch Dämpfe getrocknet und wiederum mit Lack versiegelt.
Der Vater von Donald Duck badet bis auf weiteres in flüssigem Helium der Auferstehung entgegen, gerade deshalb, weil er einem “Danach“ skeptisch eingestellt war. Nun, tot ist Walt Disney vorerst einmal bis auf weiteres und eine Reanimation ist wohl noch unwahrscheinlicher als ein Leben danach. Da er über genügend Geld verfügte, konnte er sich den Versuch leisten, frei nach dem Motto: “Nützt es nicht, so schadet es auch nicht“. Im Christentum (Katholizismus und Orthodoxie) ist die Reliquienverehrung eine der ältesten Formen der Heiligenverehrung und schon im mittleren 2. Jahrhundert eindeutig nachweisbar, lange vor z.B. Ikonen- oder anderen Heiligenbilderverehrungen. Dies ist bemerkenswert, da in der heidnischen Antike die Reliquienverehrung nicht erwünscht war und Körperteile von noch so frommen Verstorbenen als unrein galten.
Auch wenn das Panoptikum in weitgehend bilderlosen Zeiten, vor dem Aufkommen der illustrierten Zeitungen, eine durchaus aufklärende Funktion hatte, so wich diese doch zusehends den einfachen Schaugelüsten der Besucher. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich die Wachsfigurenkabinette und darin insbesondere die Abbildungen von Massenmördern und anderen Verbrechern. Der englische Maler Marcus Harvey setzt diese Tradition in der Gegenwart fort, indem er uns mit dem Portrait der Kindsmörderin Myra Hindley beglückt.
 
Auch maritime Kabinette mit ganzen Walfischen und Mörderhaien mit Kleider- und Körperresten von Menschen, waren neben den zahlreichen Abnormitäten Shows zu sehen, als ob schon zu dieser Zeit die “young british artists“ ihre Hand im Spiel gehabt hätten.
Noch bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts konnte man ganze (so genannte) Liliputaner Truppen im Zirkus bewundern, wie man sie aus dem Film “die Blechtrommel“ kennt. Mit der zunehmenden Sensibilisierung, der Political Correctness, verschwanden diskriminierende Ansätze aus der Welt der Schaustellerei. In einer Welt “normativer Idealtypen“ den MMM’s (Models,Missen,Misters) oder den Attraktivitätsstereotypen auf der einen Seite und den vor Diskriminierung schützenden Regeln auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob es denn heute wirklich besser bestellt ist um Menschen mit einer Behinderung. Ist nicht das Ende der Liliputanertruppe ein Verlust für Kleinwüchsige? In einer Kolonie von Kleinwüchsigen entfällt die Differenz und ein einzelner „normalwüchsiger“ wäre in dieser Kolonie ein „Behinderter“. Natürlich resultierte der primäre Erfolg solcher Truppen aus der Andersartigkeit und nicht aus ihrem artistischen Können, oder bestenfalls aus der Kombination der beiden. Eine positive Errungenschaft sind die Paralympics. Sie haben sich durchgesetzt, trotz anfänglicher hochpeinlicher Blamagen für die USA. Hirn und Mentalität kann man offensichtlich nur schlecht liften.

Foto Louise Joly
Leistungssportler, die an den Paralympics teilnehmen zeigen uns, dass eine Behinderung kein Grund zur Resignation sein muss und dass sie wahrscheinlich mehr Durchhaltevermögen haben, als manch ein Unversehrter.
2005 stritt man in London um eine Skulptur des Bildhauers Marc Quinn auf dem Trafalgar Square. Der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone wollte diese Skulptur, der Platz sei das Aushängeschild für sein multikulturell gedachtes, politisch korrekt gewünschtes London. Die Figur taugt nicht zum Schönheitssymbol, ihre Füße sind verkrümmt, ihren schmalen Schultern fehlen die Arme. Der Marmortorso zeigt die schwerstbehinderte Künstlerin Alison Lapper im achten Monat schwanger. Einst eroberten Helden wie Nelson die weite Welt, so Quinn, heute sei derjenige ein Held, der seine Lebensumstände meistere und die Vorurteile anderer überwinde. Mit seiner Figur der schwerbehinderten Künstlerin Lapper wolle er ein neues Modell weiblichen Heldentums entwerfen.
Viele hätten sich sicher an diesem ehrenwerten Platz, wo Lord Nelson die glorreiche Vergangenheit des britischen Empires zelebriert, ein Denkmal von Churchill oder der Queen gewünscht, doch ein Denkmal sagt es ja: Denk mal! Und über die Queen haben wir doch schon lange genug nachgedacht, sie gehört ins Antiquitätengeschäft.
Was in den Köpfen und Ärschen der Kunst so alles vor sich geht
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Thomas Wagner FAZnet
Seit einiger Zeit treiben sie dort ihr heikles Spiel mit dem Kuriosen und Monströsen, um an den Grenzen des guten Geschmacks die Grenzen des Machbaren auszuloten.
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Dieser Satz geht letztlich von einem objektiven Geschmacksurteil aus und ist ein Relikt elitär bürgerlicher Kulturauffassung. Die hier angesprochene Grenze des guten Geschmacks, ist heute mehr denn je eine variable Grösse und abhängig vom soziokulturellen Umfeld. Künstler die an diesen Grenzen kratzen, wissen in der Regel genau wo diese entlanglaufen. Wenn ein Terence Koh seine Performance “God“, bei der er sich von jungen Männern penetrieren liess, mit den Worten verteidigt:
"Die Leute glauben, dass ich das mache, um zu schockieren und aus Sensationslust, aber es ist einfach so, dass diese Dinge in meinem Kopf passieren. Es ist keine Masche dahinter. Man ist dafür geboren, das zu tun, was man tut."
Dieser Satz ist nicht nur nicht haltbar, sondern gelinde gesagt bescheuert. Im Kopfe des Koh passieren Dinge, die bei andern Schwulen sicher auch passieren. Ob man dafür geboren wird, das zu tun was man tut, ist eine andere Frage und wenn einer schon vorsorglich darauf hinweist, dass es nicht eine Masche ist die er da vorträgt und behauptet, dass er mitnichten zu provozieren gedenke, dann ist dies wahrlich billigstes Kalkül. Mag die Koh’sche Sakralfickerei noch den einen oder andern in seinen Gefühlen verletzen, sich das anzutun ist jedoch so freiwillig wie der Konsum von profaner Pornografie, die glücklicherweise nicht als Kunst herhalten muss. Was heute auf dem Kunstjahrmarkt ankommt, ist grösstenteils Futter für dumme Neureiche verhökert von skrupellosen Galeristen. Koh ist ein billiger Abklatsch von Warhol und Mappelthorpe, weit entfernt von der Qualität eines Robert Gober oder eines Matthew Barney.
Ob die Hitlerrolle in Spielfilmen zur Aufklärung in Sachen Geschichte beiträgt, ob es überhaupt sinnvoll ist Hitler darzustellen, ist sicher eine Frage wert. Dass Chaplin 1940, wo das gesamte Ausmass des Horrors noch hinter den Stahlgewittern verborgen war, Hitler den Spiegel vorgehalten hat, ist ein künstlerisches Bravourstück. Ebenso die Collagen von John Heartfield agierten in der Zeit und waren Anti-Propaganda. Bilder, insbesondere die Malerei auf klassischem Malgrund, zielt darauf ab, aufgehängt zu werden und ist nicht vergleichbar mit dem flüchtigen Bild im Film oder im Journal, wo man weiterblättert. Das Wandbild ist omnipräsent, man entgeht ihm nicht. Ob nun die Welt und mit ihr der Kunstjahrmarkt auf eine Irene von Neuendorff und ihr Hitlerprojekt gewartet hat, ist leider keine Frage, ist beinahe selbstredend. Im Trivialbereich des Tabubruchs musste jemand den Kopf herhalten für diesen Leichtsinn. Künstler werden zunehmend Opfer ihrer eigenen Verirrung, wissend, dass sie aufgehoben sind in einem Netzwerk affirmativer Gleichgültigkeiten, solange das Produkt den Effekt hascht und hält, was es verspricht. Hitler, welcher seinerseits Opfer des Wahns war, ein Künstler sein zu müssen, hätte sicher volles Verständnis für das Verlangen eines Menschen, doch einmal im Mittelpunkt zu stehen. Natürlich können wir widersprechen und sagen, es war gerade die Naziästhetik und Hitler an vorderster Front (s. “Architektur des Untergangs“ Dokfilm von Peter Cohen) die störendes ausmerzen wollte und die Hitler-Porträts der von Neuendorff sind in der Tat störend, sind nicht aufhängbar im Grunde. Oder doch? Gibt es tatsächlich Leute, die so etwas in ihre “gute Stube“ hängen? Und handelt es sich um dieselbe Frage, wenn es um einen Twombly geht? Warum sind die Porträts von Nazigrössen in irgendwelchen Depots für “Kunstsondermüll“? Warum ist Arno Breker als Bildhauer zur Persona non grata verkommen? Fragen wir doch Peter Weibel um eine logothetische Analyse des Problems. Weibel schrieb 1987:
“Kiefers Bilder in eleganten Wohnungen der Madison Avenue sind auf eine bestimmte Weise vergleichbar den Bildern von Marc, Munch, Gaugin in Görings Privatschloss Karinhall.“ - “Von diesem doppelten Salto der Signifikanten ist die moderne Welt gekennzeichnet.“
Weiter schreibt er: “In einer Dritten Drehung der Signifikanten könnten wir sagen, dass Kiefers Kriegsbilder den latenten Kriegszustand des Kapitalismus wiederspiegeln.“
Damals 1987 war es die Politik der verbrannten Erde in Nicaragua, heute sind es die Ölkriege gegen den Terrorismus. Welchen Kopfstand muss nun heute ein Sammler machen, um Bilder wie die Hitlerporträts vielleicht sogar in einer Wohnung am Kurfürstendamm aufzuhängen und welchen Drei- bis Vierfachsalto der Signifikanten müssten wir da erst kennzeichnen? Unter uns, es geht doch in diesem Fall nicht mehr um Bilder und schon gar nicht um Malerei. Und schon gar nicht um das Aufhängen derselben. Auch wenn uns die von Neuendorff an anderer Stelle weismachen will, dass sie gern Narben und Wunden in Fleisch malt, mit ihren Intensionen rückt sie doch in die Nähe von Who, in dessen Kopf die Penetration abgeht und er, Who, einfach mal muss was er muss.
Paul Kaiser Cicero Magazin für politische Kultur
Artikel Teutsche Flachware
Natürlich gibt es für die Verwendung des Diktaturmülls legitimatorische Erklärungsstereotype. In Zeiten einer „neuen Romantik“ blüht die Ironie zumindest in der Prosa der Beipackzettel. Die Kommentartexte verweisen denn auch auf die kalkulierte Provokation.
Sind solche Künstler alles willenlose Müsser oder berechnende Woller? Viele unter ihnen sind wohl zu dumm für das Wollen also müssen sie wohl oder übel Müssen, sind eben Müsser. Müsser haben eines gemeinsam mit Sexualstraftätern, sie müssen ab und zu mal. Solange sie niemanden zu etwas zwingen sind sie auf der guten Seite und dass sie lediglich die Kunst vergewaltigen ist weiter nicht schlimm, die Kunst sitzt langfristig schlechte Kunst aus. Künstler können noch so das Narrenkostüm anziehen, entweder man kann sie ernst nehmen, oder sie gehören in die Kategorie von Uriella und Co. Die Sekte Fiat Lux ist doch unter uns gesagt ein Gesamtkunstwerk erster Güte und Qualität und obendrauf noch wahrhaft und authentisch - leider bislang vom Kunstmarkt nicht entdeckt. Gute Performance will sich eben nicht vermarkten lassen, sie ist die radikale Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis, oder liegt hier ein weiterer Irrtum vor? Ist Uriella gar die unendliche Drehung des Signifikanten um die eigene Achse also im Grunde eine Gottgesandte? Gott kommt in der Kunst etwas viel vor in letzter Zeit. Auch bei Damian Hirst’s Schädel “For the love of god“ kommt er vor. Der Reichtum, der in dem Totenkopf steckt, ist letztlich auf sieben Umwegen jener Natur abgeluchst die wir zunehmend zerstören. Es ist ein Werk das den Untergang feiert wie selten ein Werk. Um hundert Millionen zu generieren muss Erdöl fliessen, müssen Felder mit Pestiziden vergiftet werden, müssen Drogen unter die Leute gebracht werden, kurz muss der gesamte kapitalistische Wahnsinnsapparat seine Runden drehen. Nirgendwo auf diesem Planeten existieren hundert saubere Millionen! Die Kunst hat sich längst mit den Mächtigen verbündet, wie einst der kleine österreichische Gefreite aus Brunau, der von einem Militärarzt als Psychopath eingestuft wurde, welcher zu Führungsaufgaben völlig ungeeignet sei. Nun Ärzte irren zuweilen, er war immerhin geeignet die Welt an den Rand des Abgrundes zu führen.
Die Neoromantik
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»Warum gebar ich nicht ein Nest voll Schlangen,
Statt diesem Spottgebild verwünschter Art!
Baudlaire
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Romantik zerbricht die klassischen Grenzen; will Herrschaft der frei schöpferischen Phantasie, die wichtiger ist als „edle“ Form und hochgeistiger Inhalt; will Grenzen sprengen: Grenzen des Verstandes, Grenzen zwischen Wissenschaft und Poesie und zwischen den einzelnen Dichtungsgattungen Streben nach einer „Universalpoesie“, die gleichzeitig Wissenschaft, Religion und Dichtung und lyrisch, episch, dramatisch und musikalisch ist; will Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit niederreißen; will die ganze Welt „romantisieren“ und fordert völlige Subjektivität, Individualisierung, Freiheit und Unabhängigkeit und eine weltoffene, ewig unfertige Dichtungsform; Vorliebe für das Traumhafte, Wunderbare, Unbewusste, Übersinnliche. Wir leben in einer wunderbaren Welt der Wettbewerbe und Rekorde. Das Fernsehen taumelt von Awardshow zu Awardshow. Liebe TV Tanten und TV Onkel hier ein Gratistip für eine weitere Awardshow: “Wer hat den längsten Schwanz, die grösste Muschi, das dunkelste Arschloch?“ Wir werden es leider noch erleben, weil der Quotendruck auch die letzten Bastionen zu Fall bringen wird. Ein weiterer Quotenrenner werden sicher bald die TV-Übertragungen von Hinrichtungen aus Schurkenstaaten wie Texas und China sein. Und als Künstler könnte man sich doch einbetonieren lassen bis zum Kopf um so als Skulptur von einer Museums-Konservatorin bis ans Ende der Tage durchgefüttert zu werden, Titel: “Sie glauben gar nicht, was alles in meinem Kopf abgeht.“ Oder ein lesbisches Künstlerpaar lässt sich zu einem siamesischen Zwilling zusammennähen, wäre doch coolo, wäre die Attraktion an jeder Kunstmesse. Je mehr man über all das nachdenkt umso mehr merkt man, dass der wahren Kreativität immer noch lauter kleinbürgerliche Gesetzte und ethisch moralische Grenzen im Wege stehen und es für Künstler immer schwieriger wird noch etwas “erlaubt Geschmackloses“ zu tun. In der neoromantischen Gegenwart ist kein Platz für Grenzen. In einer Welt der totalen Subjektivität werden intersubjektive Räume zu Rumpelkammern, in denen UFOs und Massenmörder eine friedliche Koexistenz mit Strandkörben pflegen. Verbindlichkeiten werden zu Unverbindlichkeiten und kosten das Doppelte. Die Kunst kann sich noch so politisch geben, sie ist in den meisten Fällen machtlos, kann Unheil selten verhindern. Umgekehrt gilt es die Augen offen zu halten. Tabuverletzungen als Antriebsfeder des Kunstmarktes etablieren mit der Zeit generell den Tabubruch in der Gesellschaft. Je abgestumpfter eine Gesellschaft wird, umso leichter frisst sich der neoliberale Geist in die letzten Tabus, beispielsweise der Genetik, oder der Neurowissenschaften und wir sind wieder soweit wie vor einigen Jahrzehnten, als es galt den idealen Volkskörper zu formen. Die Gefolgschaft war damals gross und wie heisst es doch: “Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Soviel zur etwas anderen Theorie der Avantgarde.
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